Die Begründung der Jury
Mirna Funks erster Roman „Winternähe“ ist ein Debüt, das durchaus wie Uwe Johnsons Prosa gegen „einfache Wahrheiten“ angeht. Man meint zu erkennen, dass hier eine Autorin am Werk ist, für die Schreiben ebenfalls so etwas ist wie ein „Prozess der Wahrheitsfindung“. Es geht wie bei Uwe Johnson um Erinnerung und um die Shoa. Die Figuren sind mit Schuld und Verrat konfrontiert. Dabei nutzt Mirna Funk Dokumentarisches und baut in ihre Fiktion verbürgte Fakten ein. Es kommt ihr darauf an, eine Sache anzusehen auf alle ihre Ecken und Kanten und wie sie miteinander zusammenhängen. Ganz so, wie es Gesine in den „Jahrestagen“ sagt.
Freilich gibt es einen Unterschied zu Johnsons ‚Person’ Gesine: Lola, die Hauptfigur bei Mirna Funk, ist nicht nur kontemplativ-analytisch angelegt. Sie ist emotional und fragt sich, ob und wie in der Familie die Einzelnen Verantwortung übernehmen oder auch nicht. Ihre Eltern lassen sich als Gegenbeispiele zu Liesbeth und Heinrich Cressphal aus den „Jahrestagen“ lesen. Sie sind in einer gewissen Weise verantwortungslos. Aber genau dies motiviert die Tochter Lola dazu, sich einzubringen, Zivilcourage zu entwickeln und unter die „Kruste des Gewesenen“ zu schauen. Dabei ist ihr Blick auf mehrere Generationen der Familie gerichtet.
Mirna Funk bringt mit ihrem Roman eine globale Perspektive ein, sie erzählt von latentem Antisemitismus in Europa, sie spielt Kontroversen durch und bleibt dabei erzählerisch konsequent. Und nicht zuletzt fasziniert an ihrem Roman das, was man sinnliches Erzählen nennen kann. Darin unterscheidet sie sich von Uwe Johnson.
Zum Buch
Mirna Funk erzählt die Geschichte einer jungen deutschen Jüdin in Berlin und Tel Aviv.
Ihr Name ist Lola. Sie ist Deutsche. Sie ist Jüdin. Und die einzige, der ihr ein Hitlerbärtchen ins Gesicht malen darf, ist sie selbst. Sie hat genug davon, dass andere darüber bestimmen wollen, wer sie ist und wer nicht. Sie entscheidet, wovon sie sich verletzt fühlt und wovon nicht.
Wer bestimmt darüber, wer wir sind? Unsere Herkunft, falsche Freunde, orthodoxe Rabbiner?
Lola ist in Ost-Berlin geboren, ihr Vater macht rüber und geht in den australischen Dschungel. Sie wächst auf bei ihren jüdischen Großeltern und ist doch keine Jüdin im strengen Sinne. Ihre Großeltern haben den Holocaust überlebt, sie selber soll cool bleiben bei antisemitischen Sprüchen. Dagegen wehrt sie sich.
Sie lebt in Berlin, sie reist nach Tel Aviv, wo im Sommer 2014 Krieg herrscht. Sie besucht ihren Großvater und ihren Geliebten, Shlomo, der vom Soldaten zum Linksradikalen wurde und seine wahre Geschichte vor ihr verbirgt. Lola verbringt Tage voller Angst und Glück, Traurigkeit und Euphorie. Dann wird sie weiterziehen müssen. Hartnäckig und eigenwillig, widersprüchlich und voller Enthusiasmus sucht Lola ihre Identität und ihr eigenes Leben.
Zur Autorin
Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren und studierte Philosophie sowie Geschichte an der Humboldt-Universität. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin unter anderem für „Der Freitag“ und „Zeit Magazin“ und schreibt über Kultur, Lifestyle und Kunst. Sie lebt in Berlin und Tel Aviv.