Begründung der Jury
Mit „Flughunde“ wird ein Roman ausgezeichnet, der unbestechlich wie überzeugend-neuartig von Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus erzählt. Vor allem konfrontiert das 1995 erschienene Buch mit der Frage, was warum damals möglich war und was heute möglich wäre. „Flughunde“ legt jenen Mechanismus offen, der zu Versagen und Schuld einer ganzen Generation geführt hat. Eindrucksvoll schildert der Autor, wie persönliche Leidenschaften durch eine Gesellschaft unabhängig von den jeweiligen ideologischen Denkmustern instrumentalisiert werden können.
Beyers Schreiben zielt wie das von Uwe Johnson auf Wahrheitsfindung und bedarf des Lesers in seiner wertenden Kompetenz. Die Jury ehrt eine literarische Leistung, die Maßstäbe für den Umgang mit Gedächtnis und Geschichte durch die jüngere Generation deutscher Autoren setzt.
Aus der Dankesrede von Marcel Beyer zum Uwe-Johnson-Preis
„(…) Schweigen ist unmöglich.“ und „Die guten Leute sollen das Maul halten.“ Diese beiden Sätze markieren eine Spannung, der ich mich heute ausgesetzt sehe. – Als Nachkomme von Schweigegeneration und Antwortgeneration, dazu als jemand, der weder einen Stern noch einen farbigen Winkel sich an die Kleidung hätte heften müssen, der nicht zur Ermordung vorgesehen wäre, weiter als jemand, der mit Worten umgeht, als Neigung, zudem vor der Öffentlichkeit, und der aus seiner Neugier notwendigerweise eine Befragung, eine unabschließbare Prüfung seines Materials, der Sprache ableitet. Eine Spannung, die nicht auflösbar ist. Sie ist eine Voraussetzung meines Sprechens und Hörens.
Wer aber eine Haltung des Hörens lernen möchte, der kann das bei Uwe Johnson tun. Das ist auch das Vergegenwärtigen der Verantwortung bei der Wahl meiner Worte, also beim Hören der Welt. Und es ist das Merken: Über Sprechen und Schweigen läßt sich so schnell nicht verständigen, wie man es aus dem Reden darüber schließen mag.
Dies zu merken, dies fragen zu wollen, danke ich Uwe Johnson. (…).“
Zum Buch
Flughunde sind fledermausähnliche Flattertiere mit hundeartigem Kopf. Für Hermann Karnau sind sie von Kindheit an Sinnbild einer Welt, die vor dem Zugriff fremder Stimmen geschützt ist. Die Stimme ist der Fetisch des Akustikers Karnau, der 1940 den Plan faßt, systematisch das Phänomen der menschlichen Stimme zu erkunden.
Die eine Erzählstimme gehört Hermann Karnau, dessen Namen der Autor einem Wachmann im Berliner Bunker unter der Reichskanzlei entliehen hat. Die andere gehört der achtjährigen Helga, einer Tochter des Propagandaministers. Immer wieder kommt es zu Begegnungen der beiden, zuletzt im April 1945, als Karnau in Berlin ist, um die Führerstimme aufzuzeichnen.
Ein Zeitsprung führt in den Sommer 1992. Hermann Karnau, der nach dem Krieg untertauchen konnte, findet in seinem Plattenarchiv die Stimmen, die Gespräche von Helga und Helgas Geschwistern während ihrer letzten Tage und Nächte wieder. Auch den Kindern hat er die Stimmen – bis zum letzten Atemzug – abgelauscht.
Zum Autor
Marcel Beyer wurde am 23. November 1965 in Tailfingen/ Württemberg geboren. Wohnte in Kiel, Neuss und Köln. Nach dem Abitur zwanzig Monate Zivildienst in einem heilpädagogischen Kindergarten. Studium der Germanistik und Anglistik in Siegen. Bevor er 1996 nach Dresden zog, lebte er als Herausgeber („Vergessene Autoren der Moderne“), Übersetzer und Essayist in Köln. 1988-1991 Veröffentlichung von Literaturkritiken. Schreibt seit 1991 Musikkritiken für das Magazin SPEX.
Außer dem Roman „Flughunde“ (1995) sind erschienen: „Obsession. Prosa“ (Bonn, 1987), „Walkmännin. Gedichte 1988-1989“ (Frankfurt/Main, 1991), der Roman „Das Menschenfleisch“ (Suhrkamp, Frankfurt/Main, „Braunwolke. Gedichte“ (Berlin, 1994), „Falsches Futter. Gedichte“ (Frankfurt/Main 1997) und der Roman „Spione“ (Köln, 2000).
Weitere literarische Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wie “Schreibheft”, „Entweder/Oder“, „Akzente“ und „miniature obscure“. Beyer erhielt bisher das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln (1991), den Klagenfurter Ernst-Willner-Preis (1991), Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin, Autorenförderung für die „Arbeit am zweiten Buch“ der Stiftung Niedersachsen (1993), Stipendium für Schloß Wiepersdorf (1995), Johannes-Bobrowski-Medaille (1996).