Die Begründung der Jury
Verlust einer Utopie als Erzählmuster. In dem Alter, in dem Uwe Tellkamp seinen ersten großen Roman vorlegt, konnte Uwe Johnson (1934–1984) bereits auf ein gewichtiges Werk verweisen. Tellkamp hat Lebenserfahrung verschiedener Art und gab den Mediziner-Beruf auf, um Schriftsteller zu werden. Heute werden diese Umwege zur Literatur für die Autoren immer wichtiger. Denn das weitgehende Fehlen existenziellen Konflikterlebens der geistigen Eliten in Deutschland scheint die größte Gefährdung der epischen Gattungen der Gegenwartsliteratur zu sein.
Als 1959 „Mutmassungen über Jakob“ erschien, betrieb der Germanist Johnson noch weitgehend unerledigte Wirklichkeitstransformation in Literatur. So unterschiedlich die Biografien, so ähnlich bekommen beide Autoren ihr geteiltes Deutschland in den Blick. Das erzählerische Terrain reicht von der konfliktreichen Erfahrung in der DDR hinüber zur Freiheit des Westens, jeden erzählerischen Entwurf öffentlich denken zu können.
Johnson hat diesen Bogen des fiktionalen Erlebens im posthum erschienenen Roman „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ in eine Erzählzeit gespannt, da die deutsche Einheit noch eine politische Option darstellte und stärker mitschwang als in den folgenden 60er- und 70er-Jahren. Beschrieben wird die Geschichte einer Abiturklasse in einer fiktiven mecklenburgischen Kleinstadt. Die Schülerin Ingrid gerät in unauflösbaren Widerspruch zum Sozialismusverständnis der SED. Mit ihrem Freund flüchtet sie in den Westen, in eine Lebensweise, „die beide eigentlich als die falsche erachten“.
25 Jahre später verläuft in Tellkamps Roman „Der Turm“ die Konfliktlage auf vergleichbaren Bahnen. Nur dass die Geschichte dem Autor die finale Entscheidung seiner Figuren abnimmt. Im Unterschied zu Johnson wird ihm als Erzähler die Möglichkeit verwehrt, gegen die realen Verhältnisse anschreiben zu können. Das ist Dilemma und Herausforderung zugleich. Die Handelnden am Ende der DDR stehen im Spannungsfeld zwischen zu bewahrender Individualität und der Ohnmacht, im „Mahlstrom der Revolution von 1989“ abzutreiben.
Gleichwohl erinnert Tellkamps monumentales Panorama in Vielschichtigkeit, assoziativem Reichtum und Ironie an Johnsons Hauptwerk „Jahrestage“. Hier wie da geht mit dem Geschehen ein Utopieverlust der Hauptfiguren einher. Als gebe die politische Sozialisation den Autoren ein Grundmuster des Erzählens vor.
Zum Buch
Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben. Kein anderes Buch hat in den letzten Jahren gleichermaßen Kritiker und Publikum derart begeistert.
Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Anne und Richard Hoffmann stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man sich vor den Zumutungen des Systems in die Dresdner Nostalgie flüchten? Oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen?
Christian, ihr ältester Sohn, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Er hat Zugang zum Bezirk „Ostrom“, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird.
In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen beschreibt Uwe Tellkamp den Untergang eines Gesellschaftssystems.
Zum Autor
Uwe Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren. In Leipzig, New York und Dresden hat er Medizin studiert, dann an einer unfallchirurgischen Klinik in München gearbeitet. Sein erster Roman „Der Hecht, die Träume und das Portugiesische Café“ (2000) blieb wenig beachtet, die Veröffentlichung des zweiten, „Der Eisvogel“ (2005), erlebte der Autor dann schon als Ingeborg-Bachmann-Preisträger: Mit einem Auszug aus seinem noch nicht vollendeten Romanprojekt „Der Schlaf in den Uhren“ hatte Uwe Tellkamp im Jahr zuvor den renommierten Klagenfurter Wettbewerb gewonnen.