Die Begründung der Jury
Für Christoph Hein ist der Autor ein „Chronist seiner Zeit“. Als Chronist „darf er den Blick nicht senken, muß alles wahrnehmen und aufzeichnen können“. Diese „seine Wahrheit“ muss der Autor „notfalls auch gegen den Geschichtsverlauf“ aussprechen, seine Erfahrungen muss er selbst dann offenlegen, „wenn sie gegen den Zeitgeist stehen“.
Einem solchen Schreibansatz folgt Christoph Hein auch in seinem neuen Roman „Weiskerns Nachlass“. Mit und an dessen Protagonisten zeigt sich, wie trügerisch soziale Sicherheit in der Gegenwart sein kann und welche Rolle die (Geistes)Wissenschaften in einer auf Materielles orientierten Welt spielen. Das Beobachten, das Registrieren, das Aufzeichnen erfolgt dabei – für Christoph Hein und Uwe Johnson kennzeichnend – „ohne Haß und Eifer“, mithin „gelassen und unparteiisch“. Hein und Johnson liegen mit ihrem Beobachten und Erzählen dicht nebeneinander.
Sein spielerisches Erzählen, das die erfundene Geschichte der Hauptfigur zu einem „Was-wäre-wenn-Spiel“ macht, zeigt die hohe Imaginationskraft und die meisterlich eingesetzte Ironie in der Literatur von Christoph Hein. Wie wenige Autoren in der deutschen Gegenwartsliteratur hält Christoph Hein mit seinem Roman an einem gesellschaftskritischen Anspruch von Literatur fest.
Zum Buch
Rüdiger Stolzenburg, 59 Jahre alt, hat seit 15 Jahren eine halbe Stelle als Dozent an einem kulturwissenschaftlichen Institut. Seine Aufstiegschancen tendieren gegen null, mit seinem Gehalt kommt er eher schlecht als recht über die Runden. Er ist ein prototypisches Mitglied des akademischen Prekariats.
Dieser „Klasse“ fehlt jede Zukunftshoffnung: Die selbst gesetzten Maßstäbe an die universitäre Lehre lassen sich nicht aufrecht erhalten; die eigene Forschung führt zu keinem greifbaren Resultat. Für das Spezialgebiet des Rüdiger Stolzenburg, den im 18. Jahrhundert in Wien lebenden Schauspieler, Librettisten Mozarts und Kartografen Friedrich Wilhelm Weiskern, lassen sich weder Drittmittel noch Publikationsmöglichkeiten beschaffen. Und dann gibt es große Verwicklungen.
Seine Bemühungen, eine ihn ruinierende Steuernachforderung zu erfüllen, machen ihm endgültig deutlich: die Welt, die Wirtschaft, die Politik, die privaten Beziehungen – alles ist prekär. Sie zerbrechen, sie setzen Gewalt frei, geben in großem Ausmaß den Schein für Sein aus. Christoph Hein hat mit Rüdiger Stolzenburg eine Figur geschaffen, in der sich prototypisch die Gefährdungen unserer Gesellschaft und unserer Zivilisation am Ende des ersten Jahrzehnts des dritten Jahrtausends spiegeln. Christoph Hein ist damit der aktuelle, realistische, literarisch durchgeformte Gesellschaftsroman gelungen.
Zum Autor
Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien. 1967 – 1971 Studium der Philosophie und Logik in Berlin und Leipzig. Bis 1979 Dramaturg und Autor an der Volksbühne Ost-Berlin. Seit 1979 freier Schriftsteller. 1994 Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz. 1998 – 2000 Präsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland. 2014 Ehrenpräsidentschaft des P.E.N.-Zentrums Deutschland.
Werke: Der fremde Freund, (1982), Horns Ende(1985), Der Tangospieler(1989), Von allem Anfang an (1997), Landnahme(2004), Frau Paula Trousseau (2007), Weiskerns Nachlass (2001), Vor der Zeit: Korrekturen (2013), Glückskind mit Vater (2015), Trutz (2017).