Die Begründung der Jury
Aus der Geschichte der eigenen Familie schöpfend, gelingt es Shida Bazyar einen Ausschnitt von Welt zu zeigen, der vor dem Hintergrund konkreter historischer Ereignisse zentrale Fragen menschlichen Seins verhandelt. Offenbar wird – wie bei Uwe Johnson –, wie der Einzelne in die gesellschaftlichen Zeitläufe hineingezogen wird. Es geht um so existentielle Fragen wie Heimat und Heimatverlust, um Verrat und Zivilcourage, um Macht und Machtmissbrauch sowie den steten Kampf um Freiheit und Selbstbestimmtheit. Bei diesen Auseinandersetzungen mögen sich die Fronten, Methoden und Zielrichtungen historisch verändern, aber gleichwohl ist jede Generation aufs Neue aufgefordert, den eigenen Weg zu finden.
Da die Zeitspanne des Erzählten von der iranischen Revolution 1979 bis zu den Protesten gegen die Bildungspolitik in Deutschland 2009 reicht, geraten unterschiedliche Schauplätze und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in den Blick. Dabei stehen die Geschichten von vier Familienmitgliedern – Eltern und Kindern – in der Abfolge von vier Jahrzehnten im Zentrum: 1979, 1989, 1999, 2009! Die als Ich-Erzähler agierenden Figuren erinnern sich, und es wird über die puzzleartigen Rückblicke offenbar, wie sich die Lebenswelten im Iran und in Deutschland annähern, obwohl die Realitäten der ›Daheimgebliebenen‹ und der ›Exilierten‹ gleichzeitig immer stärker auseinanderlaufen.
Nach den Geschichten der Eltern, Behsad und Nahid, finden sich die Stimmen von Laleh und Morad, den Kindern, die von ihrem selbstverständlichen Leben ›im deutschen Exil‹ erzählen, dem Einser-Abitur, dem Muster-Diplom, dem Bausparvertrag oder von Claus Klebers ZDF-Weltwissen und dem Befremden, wenn der Iran und die dort verbliebene Verwandtschaft ins Bild rücken.
Durch die gelungene Erzählkonstruktion wird ein mehrdimensionaler Blick auf die Geschichte(n) geworfen. Es wird ganz im Sinne von Uwe Johnson eine ›Version von Wirklichkeit‹ angeboten, die es nunmehr zu vergleichen gilt mit jener, die die Leser ›unterhalten und pflegen‹. Abgezielt wird auf den ›unterschiedlichen Blick‹ und die Fähigkeit, die ›andere Seite mit ihren Augen zu sehen‹. Shida Bazyar erhält den Uwe-Johnson-Förderpreis 2017, weil sie in ihrem Roman ›Nachts ist es leise in Teheran‹ ein vielfältiges Panorama des Daseins zwischen unterschiedlichen Welten entfaltet und dabei einfache Antworten vermeidet.
Die Laudation von Mithu Melanie Sanyal können Sie hier herunterladen.
Zum Buch
Vier Familienmitglieder, vier Jahrzehnte, vier unvergessliche Stimmen. Aufwühlend und anrührend erzählt Shida Bazyar die Geschichte einer iranisch-deutschen Familie, die ihren Anfang 1979 in Teheran nimmt und den Bogen spannt bis in die deutsche Gegenwart. Von Behsad, dem jungen linken Revolutionär, der in der mutigen, literaturbesessenen Nahid die Liebe seines Lebens findet. Von ihrer Flucht nach der Machtübernahme der Mullahs. Und von ihren Kindern, Laleh, Mo und Tara, die in Deutschland aufwachsen und zwischen den Welten zu Hause sind.
Ein bewegender Roman über Revolution, Unterdrückung, Widerstand und den unbedingten Wunsch nach Freiheit.
Zur Autorin
Shida Bazyar, geboren 1988 in Hermeskeil, studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim, bevor sie nach Berlin zog, um ein Doppelleben zu führen. Halbtags ist sie Bildungsreferentin für junge Menschen, die ein Freiwilliges Ökologisches Jahr in Brandenburg machen, die verbleibende Zeit verbringt sie als Autorin. Neben Veröffentlichungen von Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien war sie Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses 2012 und Studienstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.