Die Begründung der Jury
Im faszinierenden Werk von Uwe Johnson spielen die Koordinaten von Gedächtnis und Erinnerung ebenso eine Rolle wie Aspekte von Trauerarbeit und Spurensuche oder Heimatsuche und Heimatverlust.
An Arno Orzesseks Romandebüt „Schattauers Tochter“ lassen sich Verbindungen zu Uwe Johnson herstellen. Auch für diesen Autor spielen die kulturgeschichtlich bedeutsamen Kategorien von Erinnerung und Gedächtnis eine gewichtige Rolle.
Arno Orzesseks Erzähler erinnert an Geschichte(n), selbst erlebte und von anderen überlieferte. Überzeugend gelingt es ihm dabei, ein Bild von den Widersprüchen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert zu entwerfen. Wie Uwe Johnson versucht er „einfache Wahrheiten“ zu vermeiden und den Anspruch umzusetzen, dass Erzählen ein „Prozess der Wahrheitsfindung“ sein müsse.
Während Teile der jungen Autorengeneration mit Debüts Erfolg hatten, in denen sie sich ihrer eigenen Jugend versicherten und ihre Erinnerungen gewissermaßen poetisierten, schafft es Arno Orzessek, eine brillante Adoleszenz- beziehungsweise Schulgeschichte in einen großen Erzählkosmos einzubetten.
Indem er seine Figuren in vielfältige dramatische wie geschichtsträchtige Situationen stellt, wird der Leser dazu eingeladen, die angebotene „Version der Wirklichkeit“ zu vergleichen mit jener, die er unterhält. Der Autor zeigt lebendig, in welchem Maße ästhetische Formung ungebrochen dieChancebesitzt, unter die „äussere Kruste des Gewesenen“ (Uwe Johnson) zu gelangen und der „Wirklichkeit“ auf die Spur zu kommen.
Zum Buch
Die achtzehnjährige Marie Schattauer, das bezaubernde, scheinbar naive Kind masurischer Gebetsleute, verliebt sich, zwischen Geboten und Gelüsten hin- und hergerissen, im August 1937 in den lebenslustigen Leutnant Hermann Eckstein und folgt ihm gegen den Willen der Eltern nach Westen. Es ist ein Aufbruch in glückliche, in finstere Zeiten – in die Liebe und den Krieg.
Auch Eduard Manthey, ein ambitionierter, über seine proletarische Herkunft verdrossener Osnabrücker Gymnasiast, fasst 45 Jahre später den Entschluss, seine Wurzeln auszureißen. Er allerdings möchte an die „Spitze der menschlichen Pyramide“. Zu seinem Mentor avanciert Dr. Gustav Eckstein, Rhetoriklehrer am Karlgymnasium, der entweder als „Zauberer“ verehrt oder als „Opium für die Oberstufe“ beschimpft wird. Denn er verführt seine Schüler nach allen Regeln der Kunst; die einen zu Machtphantasien, die anderen zum Sex. Zwischen Eduard und Eckstein entwickelt sich eine gewaltige Hassliebe – weit über die Schulzeit hinaus. Der Showdown reißt alles mit sich.
Jahrzehnte liegen zwischen den Ereignissen um Marie und Eduard – aber wie sich herausstellt, gehören sie zur selben, spektakulären Familiengeschichte, in der die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts aufscheint. In kompromisslos zupackender Sprache erzählt Arno Orzessek durch die Jahrhunderte, immer hautnah an seinen Personen, manchmal sehr ernst, meistens sehr witzig, leidenschaftlich gern mit erotischer Finesse. Schattauers Tochter setzt sich fest in Gedanken und Gefühlen. Es ist ein kühner Roman, der Spaß macht und erschüttert.
Zum Autor
Arno Orzessek ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist. 1994 schloss Orzessek sein Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln ab. Seither arbeitet er als Journalist u.a. für die Süddeutsche Zeitung (bis 2005) sowie für Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk.
Sein erster Roman „Schattauers Tochter“ erschien 2005 zunächst im Verlag Rogner & Bernhard exklusiv für Zweitausendeins und ein weiteres Mal 2007 als Hardcover im Steidl Verlag.